Was wir zur Zeit bei Industrie 4.0 und Digitalisierung erleben, erinnert fatal an das, was man seit neuestem als „post-faktisch“ bezeichnet beziehungsweise „alternative Fakten“ nennt: Unabhängig von der realen Situation werden fast schon hysterisch Warnzeichen an die Wand gemalt und uns Lösungen für Probleme aufgezwungen, die überhaupt nicht als Probleme existieren.
Eine Drohkulisse wie bei einem Tsunami
Man kann es schon nicht mehr hören. Das meiste, was wir im Zusammenhang mit der „Neuen Arbeitswelt“ von Politikern, Beratern, lautstarken Kongresspopulisten und vielen Journalisten präsentiert bekommen, ist das Bild des Tsunamis: Hier kommt eine Welle auf uns zu. Sie ist unaufhaltsam. Man kann ihr nicht entkommen. Sie ist alternativlos. Und der Mensch hat sich anzupassen: im Bildungssystem, in seiner Arbeitszeit, im Freizeitverhalten.
Selbst das Spektrum der Parteienlandschaft, das früher noch Marktliberalisierung gepredigt hat, entdeckt jetzt unter dem Deckmantel der Digitalisierung die süße Versuchung des zentral gesteuerten Systemwechsels hin zum Mitarbeiter auf Knopfdruck und einer weitreichenden Enthumanisierung der Arbeitswelt.
Eigentlich sollten sich aber nicht die Menschen an eine vordeterminierte Digitalisierung anpassen. Wir Menschen sollten vielmehr die Digitalisierung für uns gestalten.
Das Schreckgespenst des „abgekoppelt Hinterherjagens“
Andere Ausdrücke der industrie-politischen Propaganda sind „Abkoppeln“ und „Hinterherjagen“. Auch hier hören wir vom postfaktischen Zug, der ins gelobte Land unterwegs ist. Wer will schon abgekoppelt sein? Wer hinterherjagen?
Bei diesen Bildern reden wir immer nur noch davon, wie wir uns wieder ankoppeln und hinterherkommen können. Ob wir wirklich abgekoppelt sind, diskutieren wir kaum. Und man bekommt kaum eine politische Arena für die Frage, ob wir nicht vielleicht sogar Zügen in die falsche Richtung nachjagen.
„Mensch das Subjekt und Digitalisierung als Objekt!“ Dummerweise eignet sich offenbar diese Forderung weder als Schlagzeile noch als Parteiprogramm.
Geschichte wiederholt sich: Der Bologna-Bluff
Es gab eine Zeit, in der uns Industrievertreter im kämpferischen Napoleon-Pathos darüber aufgeklärten, dass wir zur Rettung der deutschen Wirtschaft unbedingt einen Bachelor-Abschluss als zentralen berufsqualifizierenden Abschluss bräuchten.
Inzwischen wurde „Bachelor Welcome“ als Mogelpackung einiger Personalvorstände sowie diverser Lobbygruppen wie dem Stifterverband entlarvt. Und es wurde das wirkliche Ziel erkannt: jüngere, billigere und formbarere Absolventen.
Es war die gleiche Rhetorik, die heute bei der Digitalisierung eingesetzt wird: Ganz Europa läuft in eine Richtung und wir müssen im eigenen Interesse mitlaufen.
Nur: Weder lief ganz Europa in die gleiche Richtung, noch war die Abschaffung des Diploms unter Bologna verpflichtend – und erst Recht war diese „Reform“ nicht in unserem Interesse.
Oder hat das Auslöschen von Dipl.-Kfm. und Dipl.-Ing. die deutsche Wettbewerbsposition wirklich verbessert?
Wenn also teilweise die gleichen Personen wie damals lautstark im Vordergrund stehen und damals wie heute unhinterfragt mediale Megapräsenz bekommen, dann sollte uns das doch zu denken geben.
Das Ausgrenzen der Betroffenen: „Generation Z gibt es nicht“
Auch damals wie heute: Die Wünsche der Betroffenen werden ignoriert. Aktuell ist es die Generation Z, die hier dazugehören sollte, aber ausgegrenzt wird. Sie hat klare Vorstellungen: Und diese Vorstellungen sind exakt das Gegenteil von dem, was uns als unvermeidbare Zukunft aktuell verkündet wird.
Die Generation Z möchte durchaus Leistung bringen, aber in geregelten Arbeitszeitsystemen und ohne krankmachenden Zwang zum Work-Life-Blending.
Was aber machen viele selbsternannte Vordenker, die meisten Politiker (wie beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales), diverse Medien und fast alle Berater? Für die einen ist ein Reflektieren der Generation Z nur unnötiges „Labern“ oder „verkürzt, verflacht und künstlich konstruiert“. Für die anderen gibt es diese Generation einfach nicht. In jedem Fall aber will man die Generation Z ignorieren. Viel passender findet diese Gruppe, die unsere öffentliche Diskussion dominiert, die Generation Y: Sie gilt als rund-um-die-Uhr leistungsbereit und als 100 Prozent flexibel; sie sieht einen tieferen Sinn in ihrer Arbeit und hat – wie es ein Vertreter der postfaktischen Z-Leugner und Digitalisierungsredner so schön ausdrückte – gar keinen Wunsch mehr nach dem „Life“ in der Work-Life-Balance, weil ihr „Work“ so spannend und erfüllend ist.
Der Aufschrei „Es gibt keine Generation Z!“ kommt also vor allem von denjenigen, die lautstark „Hinterherjagen“ und „Ankoppeln“ fordern – und genau das sollte uns stutzig machen.
Die trügerische Fehlsteuerung: „MINT über alles“
Schon bei der Umstellung der Hochschulsysteme als Teil des Bologna-Prozesses hat sich gezeigt, dass die einseitige Verlagerung auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik der falsche Weg ist. Nur leider wiederholt sich auch hier die Geschichte:
Wenn beispielsweise betriebswirtschaftliche Studienrichtungen nahezu vollständig auf „Big Data“ umgestellt werden, dann ist das keine Antwort auf ein Problem, sondern dann ist das unser Problem.
Und wenn jetzt Schulen jeglicher Art radikal „auf Digital umgestellt“ und verbleibende Reste der analogen Welt immer mehr ausradiert werden, droht Deutschland ein weiterer Wettbewerbsnachteil.
Die Konsequenz: Wehrt Euch!
Wir sollten anfangen, unsere Digitalisierungspopulisten systematisch zu entzaubern und Arenen finden, in denen wir die Deutungshoheit über unsere Arbeitswelt zurückgewinnen.
Denn das, was uns aktuell als unabwendbare schöne neue Welt vorgesetzt wird, ist keine Option: Und anders als bei der deutschen Umsetzung der Bologna-„Reform“ sollten wir das rechtzeitig erkennen, um noch etwas ändern zu können.
Deshalb: Bevor wir über Feinheiten des Umgangs mit dem Tsunami diskutieren, sollten wir prüfen, ob es überhaupt den Tsunami gibt oder ob er nur von cleveren Profiteuren als sozial konstruierbare Realität herbeigeredet wird.
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