Im Augustheft des Jahres 2012 berichtet die Zeitschrift PERSONALWIRTSCHAFT unter der Überschrift „HR unter Druck” über die aktuelle Personalarbeit und die Rolle der Personalabteilung. „Statt Mitarbeiter wie früher … zu beschäftigen, werden Absolventen primär aus Kostengründen als Praktikanten geparkt, Auszubildende nach der Lehre nicht übernommen und Frauen überwiegend in Teilzeitjobs gedrängt. „Auf der anderen Seite”, so Winfried Gertz als Autor des Beitrags, „rufen Forschung und Entwicklung wegen des grassierenden Fachkräftemangels Informatiker und Ingenieure von Dienstleistern ab und bedienen sich ferner Tausender Freiberufler …”.
Auch wenn dies nichts Neues ist und spätestens seit 1993 in der Forschung propagiert wird, hält der Reiseführer „Per Anhalter durch die Arbeitswelt” an dieser Stelle noch einmal zur Sicherheit als Trend #1 fest: „Die festen Unternehmensgrenzen lösen sich auf und immer mehr Mitarbeiter werden – abgesehen von einigen Kernbereichen – nur temporär beschäftigt oder als Dienstleistung zugekauft.”
Dieser Trend hat jüngst durch das Programm „Liquid Workforce” der IBM erneut an Aufmerksamkeit gewonnen. Auch die Tatsache, dass verstärkt Interimsmanager Führungsaufgaben wahrnehmen, kennen wir seit Jahren, wenngleich es immer noch Experten gibt, die ausschließlich an die Zukunft des klassischen Unternehmens mit festen Grenzen und lebenslangen Beschäftigungsverhältnissen glauben und sich daher überrascht geben.
Tatsache aber ist, dass Trend #1 etwas Faszinierendes hat: Gerade durch die offenen Grenzen und die Einbeziehung unterschiedlichster Personen entstehen Innovationen (Beispiel Apple Computer) ebenso wie neue Lebenswelten (Beispiel Amazon.com) und immer spielen Menschen eine wichtige Rolle. Personalarbeit – egal ob für „eigene” oder locker verbundene Mitarbeiter – gewinnt (wieder) an Bedeutung und wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Deshalb ist Angst vor dem Trend #1 die falsche Reaktion: Vielmehr gilt es, diesen Trend zu verstehen und zu nutzen.
Was dabei klar ist: Mit Trend #1 können nicht alle Unternehmen umgehen und nur wenige können ihn voll nutzen: So haben Nokia [Ja, da gab es doch mal so etwas wie einen Nokia-Communicator …] und RIM [… und einen BlackBerry!] Schwierigkeiten, Apple und Samsung nicht. Amazon.com wurde zum Erfolgsbeispiel, die meisten anderen Online-Anbieter nicht. Einigen Fluglinien geht es gut, der Lufthansa nicht unbedingt. Egal ob man in IT, Handel, Industrie, Logistik oder Finanzdienstleistung schaut: Manche Unternehmen verstehen eine fluidere Belegschaft als Chance, andere haben Schwierigkeiten und sterben als Konsequenz im Extremfall aus.Erstaunlicherweise versetzt Trend #1 die in dem oben erwähnten Beitrag versammelten HR-Experten offenbar in grenzenloses Erstaunen. Noch größer werden aber Erstaunen und Ratlosigkeit, wenn es um die damit verbundene Rolle der Personalabteilung geht. Denn die darf – und da sind sich die Experten einig in ihrer Beschreibung – offenbar immer seltener mitspielen, wird von den Führungskräften in der Linie übergangen, im Extremfall sogar durch externe HR-Dienstleister ersetzt und letztlich also sukzessive selber Teil der Liquid Workforce.
Damit sind wir bei Trend #2: „Die traditionelle Personalabteilung löst sich bis auf symbolische Reste auf und wird durch eine Palette von HR-Aktivitäten ersetzt, die zunehmend überwiegend temporär von externen Dienstleitern zugekauft wird.”
Dieser Prozess ist in vollem Gange und lässt sich auch gut an den Anzeigen und Werbebeilagen der Personalfachzeitschriften ablesen. Trotzdem scheint er noch nicht so richtig in die Denkprozesse der HR-Aktivisten eingedrungen zu sein. Denn spätestens wenn es um die angemessenen Reaktionen auf Trend #1 und Trend #2 geht, beginnen die Experten wieder aufgeregt und völlig überrascht wild durcheinander zu spekulieren. Hier reicht die Bandbreite von „Nicht-Reagieren” (weil alles nur eine Mode-Erscheinung sei) bis hin zu der ebenfalls von Experten vorgeschlagenen Party zum Kennenlernen von Freelancern.
Anders ausgedrückt und als Trend #3 formuliert: „Die HR-Community verharmlost Trend #1 und denkt deshalb auch nicht über Reaktionen auf Trend #2 nach.”
An dieser Stelle könnte man jetzt diesen Eintrag in den Reiseführer „Per Anhalter durch die Arbeitswelt” beenden und sich auf eine Tasse Kaffee mit frischgebackenen Croissants in das Milliways begeben. [Für diejenigen, die es nicht mehr wissen: Das ist das von Douglas Adams beschriebene Restaurant am Ende des Universums.] Von dort aus kann man dann genüsslich den weiteren Zerfall der Personalabteilung beobachten. Oder aber man macht die Augen zu und träumt von der „guten alten Zeit”.
Also: Wer nicht weiterlesen möchte, kann jetzt Schluss machen und sich mit einem „Macht’s gut und danke für den Fisch” verabschieden. [Nun ja, das mit dem Fisch verstehen jetzt nicht alle. Macht aber nichts.]
Nachtrag für diejenigen, die es ganz genau wissen wollen und die sich mit der Historie dieses Themas befassen wollen:
Vor rund 20 Jahren begann die Diskussion über die „virtuelle Organisation” als Organisationsform, die eigentlich nur mehr aus einem Kern und vielen temporär assoziierten Einheiten besteht. Entscheidend bei dieser Virtualität war und ist, dass für den Endnutzer weiterhin Funktionalität und Eindruck einer „richtigen” traditionellen Organisation vorhanden sind. Denn nur so entstehen Vertrauen und eine integrative Wirkung. Bei virtualisierenden Unternehmen war es ganz natürlich, dass ein immer größerer Aufgabenanteil nach außen gegeben und immer mehr mit Externen gearbeitet wurde, man aber gleichzeitig den Kern und den Gesamtverbund stärkte.
Führt man oben beschriebenen Trend #3 fort, so bedeutet er das Ende der heutigen Personalabteilung. Und da sie schließlich nicht unter Artenschutz steht, ist dieses Ende vermutlich auch gerechtfertigt, gäbe es nicht zumindest die Vermutung, dass eine „neue” Personalabteilung durch ein professionelles Personalmanagement signifikant zum Erfolg des Unternehmens beitragen könnte. Der Traum: Genauso, wie sich Apple als virtuelles Unternehmen weltweit Kernkompetenzen zusammensucht und sie unter dem einheitlichen Unternehmen „Apple” effizient produziert sowie effektiv vermarktet, könnte auch die Personalabteilung personalwirtschaftliche Kernkompetenzen bündeln und sich als unternehmensspezifische „virtuelle Personalabteilung” mit Lichtgeschwindigkeit weiterentwickeln.
Deshalb folgte bereits 1995 der konzeptionelle Vorschlag zu einer „Virtuellen Personalabteilung“, für die ab heute folgende Definition gilt: „Die Virtuelle Personalabteilung (VPA) ist (1) ein aus den 90er Jahren stammender Vorschlag zur Reaktion auf (2) die zunehmende Virtualisierung von Unternehmen sowie (3) vor allem auf die zu erwartende – und bis zur Auflösung reichende – Zergliederung der Personalfunktion im Unternehmen, bei dem (4) Gestaltungsprinzipien der virtuellen Organisation konsequent auf die Personalabteilung angewendet werden, also unter Nutzung (5) modernster Informationstechnologien die (6) zentralen Kernkompetenzträger unter (7) einer einheitlichen Vision und Strategie zusammengeführt werden, wodurch (8) ein beeindruckendes Leistungsspektrum entsteht.”
Das alles klingt kompliziert und ist es in der Tat auch. Nur: Der Prozess der Auflösung und Zergliederung schreitet voran, egal wie man dazu steht. Und die damalige Prognose ist inzwischen voll und ganz eingetreten – und zwar sowohl generell für Unternehmen wie auch für die HR-Arbeit und die Personalabteilung. Genau über diesen Punkt diskutieren jetzt ganz aufgeregt die Experten im einleitend erwähnten Artikel aus der PERSONALWIRTSCHAFT.
Das einzige, was erfolgreiche Unternehmen tun, ist, diesen Trend durch eine gezielte Virtualisierungsstrategie für die Personalfunktion zu begleiten: Die Alternativen lauten also entweder schleichende Auflösung oder aber kreatives Selbsterfinden. Genau deshalb wurde schon damals gefordert, mit dem Prozess der Virtualisierung der Personalabteilung zu beginnen. Doch irgendwie versteht es sich von selbst, dass die HR-Community auch damals bereits entsetzt aufschrie, die VPA kategorisch ablehnte und auf dem alten Modell beharrte – das aber immer seltener überhaupt zur Wahl steht.
Diese Verweigerungshaltung ist genauso unsinnig, wie an einem schönen Sommerabend darauf zu bestehen, dass die Sonne nicht untergeht, die Vorteile von Sonnenlicht zu betonen und auf den Einsatz von elektrischem Strom zu verzichten. Trotzdem wurde die Verweigerungshaltung in der HR-Community konsequent praktiziert und führte zum aktuellen Zustand.
Genau vor 10 Jahren – und damit schließt sich der Kreis – wurde im August 2002 eine empirische Studie veröffentlicht, die untersuchte, wie weit sich deutsche Personalabteilungen in Richtung auf diese Virtuelle Personalabteilung eingestellt haben. Das Ergebnis: Noch nicht sehr weit, aber es gab zumindest gute Ansätze!
Die Studie von 2002 mündete in folgendem Ergebnis:
„Die Organisation der Personalabteilung ändert sich drastisch, egal, ob man den Weg zur VPA beschreiten oder andere Optionen (un-)bewusst nutzen möchte.
Und selbst für VPA-Skeptiker gilt: Verglichen mit einem unkontrollierten Outsourcing der Personalfunktion, bei dem wichtige strategische Gestaltungsfelder ganz aus dem Einflussbereich der Personalabteilung verschwinden, ist die VPA die überlegene Alternative.
Dass man darüber hinaus als Pionier in diesem Feld durch eine VPA erhebliche strategische Wettbewerbsvorteile realisieren kann, liegt auf der Hand und wird hoffentlich in einer zukünftigen Studie empirisch belegt!”
Damit geht die Sonne auf. Mögen andere die Musik nicht hören und das Gefühl des Erfolges nicht spüren: Jenseits der traditionellen Personalabteilung gibt es völlig innovative Formen der Virtuellen Personalabteilung. Man muss sich nur trauen. Und auf die eigenen Kernkompetenzen vertrauen. In einer Welt, wo Buchhalter, Wirtschaftsprüfer und Zahlenroboter scheinbar dominieren, nur rückwärtsgewandt in irgendwelche Rückspiegel blicken und keine Werte schaffen, ist die Arbeit mit Menschen doch das Größte. Vielleicht werden das nicht alle erkennen. Aber einige doch. Und ganz sicher die Leser dieses Reiseführers.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen … [außer dem Hinweis, dass diese Studie ab heute neu durchgeführt und unter dieser Adresse erreichbar ist. Bitte mitmachen!]
P.S.: Doch, noch als letzter Punkt wie üblich ein kurzer Blick in den Reiseführer von Douglas Adams. Denn er beschreibt am Ende des Universums eine interessante Situation, die an die vielen Personalkongresse erinnert, auf denen die gute alte Welt beklatscht wird: „Das Restaurant steht auf den zertrümmerten Überresten eines möglicherweise zerstörten Planeten, der in eine riesige Zeitblase eingeschlossen ist. In dem Restaurant nehmen Gäste an Tischen Platz und essen kostspielige Menüs, während sie zusehen, wie die ganze Schöpfung um sie herum explodiert – was sie aber dann doch nicht erkennen.”
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