In Deutschland gibt es medial propagierte Vorschläge zum „Digital Leadership“. Doch wie sind sie zu beurteilen? Zum Glück existiert ein kleiner Reiseführer, der uns hier erste Bewertungen liefert.
Im Restaurant am Ende des Universums. Unter einem etwas ausgeblichenen rotkarierten Sonnenschirm trinkt der Autor dieses Reiseführers den obligaten Pangalaktischen Donnergurgler Macchiato und lauscht andachtsvoll dem ganz in weiß gekleideten Prediger. Der predigt natürlich nicht so etwas Profanes wie die Bergpredigt. Weit gefehlt. Er verkündet das Evangelium der Rosinen. Die neue Zauberformel in unserer disruptiv-vernetzten Wirtschaft lautet „Disruptive Rosinenführung”.
Definition: Disruptive Rosinenführung liegt dann vor, wenn man alle Levels der Rosinenkurse besucht hat und zum Rosinen-Master aufgestiegen ist, Möbel der urheberrechtlich geschützten Marke ROSI gekauft hat, die komplex-integrative-multifunktional-vernetzte Software der Firma ROS bestellt hat und jeder Mitarbeiter stündlich durch den Verzehr von 5 in einem zertifizierten Laden gekauften Rosinen fit gehalten wird, was wiederum durch ein rosinenfarbenes Armband überprüft wird.
Inzwischen hat sich eine Traube um den eloquenten, mit wenig-dezenten Goldkettchen behängten Prediger gebildet. Wir alle lauschen andächtig. Man könnte eine Rosine hören, wenn sie zu Boden fallen würde. Dann wechselt die Stimmung zu brutal-ernüchternder Betroffenheit: Nur ganze vier von 377 befragten Unternehmen haben bei einer großangelegten Studie angekreuzt, dass sie zumindest ansatzweise eine disruptive Rosinenführung praktizieren. Blankes Entsetzen! Was passiert mit unserer galaktischen Wettbewerbsfähigkeit? Werden wir je noch Mitarbeiter bekommen? Und die Studie – finanziert von einem Kursanbieter, einem Möbelhersteller, einem Rosinenimporteur, einem Softwareanbieter und natürlich unserem Prediger – geht noch weiter: Es soll sogar noch Ewig-Gestrige geben, die an der Macht der Rosine zweifeln.
Bei dieser Panik nützt auch das Schild „Don’t Panic“ wenig, das groß an der Wand hängt und in blassblauer Farbe vor sich hin flackert.
Dann erstes Aufatmen: Der Mitarbeiter des Assistenten des Stellvertreters des Rosinenpredigers hat noch einige Besuchstermine frei. Die Erlösung rückt in greifbare Nähe. Und auch die erste Stufe zum Rosinenexperten ist noch buchbar.
Die Einladungen zu den nicht-zählbaren Kongressen mit dem Prediger, mit seinem empirischen Befund („nur 4 von 377“) und seiner Heilsleere [automatische Rechtschreibung nicht verfügbar] landen im platingestählten Aktenkoffer.
Dort liegt schon eine Studie mit einer anderen Definition, an die er sich nur sinngemäß erinnert – in etwa so:
„Digital Leadership“ ist die Führung in Unternehmen durch neue Instrumente wie Kollaboration in sozialen Medien, onlinebasierte Leistungsbewertung und Methoden wie Scrum, wodurch Führungskräfte zeigen, dass sie agiler werden wollen, sich im Unternehmen vernetzen und Mitarbeiter an Prozessen stärker teilhaben lassen.
Auch wenn sich der Autor dieses Eintrages in den Reiseführer nur noch schwach an die Studie zum „Digital Leadership“ erinnern kann, spürt er doch eine beklemmende Kälte. Denn jetzt wird es ernst: Was würde passieren, wenn wir uns wirklich diese (sehr!) spezielle Variante von digitaler Führung auf die Fahnen schreiben würden?
Problem #1: Warum soll ein eindimensionaler Haarschneideautomat plötzlich auf die verschiedenen Führungssituationen passen?
Die Studie präsentiert eine klare Bewegung: von dauerhaft zu temporär, von Kontrolle zur Reflexion, von selektiv zu vollständig, von periodisch zu kontinuierlich, von Regelwerk zu Lernfortschritt, von Konsequenzen zur Unterstützung und so weiter.
Genau das ist fatal: Diese hier vorgeschlagene Veränderung geht von allgemein zu speziell, von Schweizer Taschenmesser zu Hammer. Denn je nach Situation kann das eine oder das andere richtig sein. Und nur das eine als modernes „Digital Leadership“ auf den Altar zu heben, ist das falsche Signal.
Wir brauchen viel mehr moderne Kommunikation über elektronische Medien, aber nicht zwingend allumfassende integrative IT-Systeme, die jetzt ihre Renaissance wittern. Das haben wir zum Glück überwunden. Wir brauchen Vielfalt, Offenheit, Vernetzung und definitiv keine Ideologie.
Ein konkretes Beispiel: Kann es nicht Situationen geben, in denen eine periodisch und selektive Beurteilung der Leistung von Mitarbeitern in einem Gespräch durch die Führungskraft angemessener ist als eine integrative, kontinuierliche Beurteilung in Echtzeit durch ein automatisches IT-System?
Problem #2: Hier wird „digital“ nur als Synonym für „hip“ verwendet.
Die Digitalisierung, von der hier im „Digital Leadership“ entrückt geschwärmt wird, hat wenig mit einem allumfassenden integrativen System zu tun. Dezentralisierung ist die eigentliche Devise und es ist im originären Glauben des Silicon Valley eingebettet, dass Nutzer die Technologie für die eigenen Zwecke nutzen sollen und nicht andersherum.
Problem #3: Hier wird Führung „mit“ digitalen Medien verwechselt mit Führung „in“ einer mehr-oder-weniger digitalisierten Welt.
Kann es nicht vielleicht sein, dass wir gerade angesichts der Zunahme von digitaler Interaktion von der Führung erwarten, eben nicht über digitale Medien zu kommunizieren?
Digitalisierung verändert Führung und es reicht nicht, die vorhandenen Methoden in digitale Medien zu exportieren. „Management by walking around“ wird weniger möglich sein und es reicht nicht, einfach mal ein Hackathon durchzuführen. Hackathons, genauso wie Barcamps, haben nichts mit Führung zu tun und gehören eher der „Unführung“ an.
Personalführung wird anders sein in der Digitalisierung und erfordert mehr Flexibilität, jeder einzelne Mitarbeiter wird eine individuelle Führung benötigen: Sei es der Programmierer, der die Nacht zum Tag macht, oder die Eltern, die nachmittags zu Hause arbeiten wollen. Hier hilft es nicht die Mitarbeiter nach Tel Aviv zu einem Hackathon zu schicken! Warum man Personen in der Digitalisierung überhaupt noch verschickt? Auf diese Frage braucht es eine differenzierte Antwort, die über ein „ja“ oder „nein“ hinausgeht.
Problem #4: Innovation und Wachstum als primäre Ziele von Führung sind lebensgefährlich.
Die Studie definiert im Sinne einer extremen Ideologie ihre Interpretation von „Digital Leadership“ als den Übergang von „Effizienz und Optimierung“ aus der traditionellen Führung zu „Innovation und Wachstum“. Wie gefährlich das ist, wissen wir spätestens seit dem Platzen der Internetblase.
An dieser Stelle tritt die automatische Löschfunktion ein und Probleme 5 bis 16 verschwinden vom Bildschirm. So können wir auch nicht mehr lesen, dass in der Kommunikation zur Studie „wichtiger erachtet“ offenbar gleichgesetzt wird mit „wird garantiert gemacht“.
Problem # 17: Wieso ist „digital“ automatisch die großartige Rakete und „analog“ automatisch das Schneckenhaus, aus dem wir gar nicht schnell genug herauskommen können?
Nein, da gefällt einem der weißgekleidete Prediger mit seiner Disruptiven Rosinenführung doch besser. Er kennt sein Produkt, er weiß, was dahinter steckt. Und er überzeugt. Rosinen sind immer gut.
Vielleicht könnte man mit ihm einmal darüber diskutieren, wie die dringend nötige Führung im digitalen Zeitalter jenseits jeglicher eindimensionalen Ideologie (die aktuell leider extrem angesagt ist) aussehen könnte. Wo je nach Situation auch einmal der Verzicht auf vollständige Echtzeit-Information goldrichtig sein kann? Wo nicht nur reflektiert, sondern auch einmal kontrolliert wird? Wo auch „dauerhaft“ nicht generell verkehrt ist? Schlägt wirklich analog immer digital? Und schließlich: Ist „Wachstum“ tatsächlich das Ziel, dem wir uns alle und immer verschreiben wollen?
Richtig interessant würde es, wenn man weiterdenkt und sich tatsächlich mit der Logik der digitalen Welt beschäftigt. Dann kommt man zu einer Führung 4.0, die mehr ist als das, was uns hier als „Digital Leadership“ verkauft wird.
Man sollte über digitale Neuartigkeiten nachdenken und überlegen, was alles möglich und sinnvoll ist. Augmented Reality als Personalentwicklung, Personalführung in Mensch-Maschine Teams, Mixed Reality als Videokonferenzen und letztlich Digitalisierung als Individualisierung der Arbeit von sowie für die Mitarbeiter: Hier liegt die Betonung auf Individualisierung und nicht Wegrationalisierung. Und dann wissen wir spätestens seit Collins und Porras, dass es nicht nur A oder B gibt: Es gibt beides. Wir brauchen ein anderes Verständnis von „Digitaler Transformation“: Es geht nicht um teure Computersysteme. Vernetzung ist keine technologische Frage – sondern eine kulturelle.
Wir brauchen eine digitale Transformation, die uns von diesem traditionalistischen „Digital Leadership“zu einer zeitgemäßen „Führung 4.0“ bringt!
Der weißgekleidete Prediger erkennt sofort den fragenden und denkenden Blick. Er dreht sich herüber … aber das wird eine neue Geschichte.
Feedback gerne auch auf Twitter unter #derAnhalter beziehungsweise @DerAnhalter.
P.S. Übrigens gibt es bei Douglas Adams in seinem großartigen Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis“ das Wort DIGITAL vor allem bei Digitaluhren und ANALOG in der „Indeterminismustheorie aller Unterwäschemoleküle einer Gastgeberin“ ….. was aber auch eine ganz andere Geschichte ist.
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