Vor fast genau einem Jahr im Oktober 2016 eröffnete Microsoft in München einen neuen Bürokomplex, der aktuell als eine der modernsten und innovativsten Bürolandschaften in Deutschland gehandelt wird. Hier findet man Open Office, Desk Sharing, Clean Desk Policy, aber auch Arbeitsort- und Arbeitszeitflexibilität. Neben allem Jubeln sollte man jedoch genau hinschauen und den Prozess der „Dekonstruktion“ einleiten, um Positives wie Negatives zu erkennen.
Wer sich wirklich schöne Architektur anschauen möchte, dem sei ein Besuch in München Schwabing empfohlen. Hier arbeiten knapp 1.900 Mitarbeiter verteilt auf etwas mehr als 1.100 Arbeitsplätze und rund 26.000 Quadratmeter in einem neuen Microsoft-Bürogebäude, das zum absoluten Must-See in Deutschland zählt und sich scheinbar zum Must-Copy entwickelt.
Jetzt wird es heikel: Der Autor dieses Reiseführers ist bekennender Apple-Jünger und hat seiner Erinnerung nach kaum je ein einziges positives Wort über Microsoft, Bill Gates oder die Farbkombination rot, grün, gelb und blau geschrieben.
Einschub: An dieser Stelle wird es (ehrlich!) unheimlich. Mit dieser Befangenheitserklärung wollte ich meinen Eintrag in den Reiseführer beginnen. Nur: Mein MacBook, das leider mit MS-Word arbeitet, bestraft meinen Frevel unmittelbar hinter dem Wort „Gates” mit einer umfangreichen Fehlermeldung, nach der irgendwelche Änderungen irgendwie nicht gespeichert werden können (Screenshot).
Und als ich nicht sofort den kritischen Satz lösche, kommt (ehrlich!) meine Lieblingsfehlermeldung – diesmal auf Englisch: „Microsoft Word has encountered a problem and needs to close. We are sorry for the inconvenience.“ (Screenshot)
Tja, die Rache von Bill Gates an Steve Jobs und seiner Fangemeinde scheint unendlich – obwohl Microsoft vor Jahrzehnten durchaus Apple gerettet hat.
Was wirklich gefällt: Das nicht-große Raumkonzept („Open Office“)
So, jetzt wieder nach München-Schwabing: Architektonisch gibt es überwiegend Positives zu berichten, und diese Feststellung ist weder ironisch gemeint noch übertrieben formuliert, sondern einfach offenkundig. Es beginnt mit dem Display-Deckenleuchter Chantal (einem „digital chandelier“), der über dem Eingangsbereich hoch von der Decke hängt. Dort erscheinen Nachrichten, Videos und Bilder. Besucher können hier ihr Foto hochladen: Das hat zumindest beim Autor dieser Zeilen funktioniert und selbst als Chantal mit dem iPhone fotografiert wurde, blieb das Bild auf dem Deckenleuchter zu sehen (Screenshot). Was nicht nach oben übertragen wurde: Die Altersschätzung durch Künstliche Intelligenz (Screenshot),
Angenehm ist auch das Open Office, das nicht das Gefühl von bahnhofshallenartigen Großraumbüros aufkommen lässt. Die Möbel sind in angenehmen Farben gestaltet, klar, ansprechend, funktional und überwiegend bequem.
Die Logik mit vier unterschiedlich möblierten Arbeitsbereichen Accomplish, Share & Discuss, Think und Converse gefällt, weil sie räumliche Diversität schafft. Von der kleinen Schreibbank bis zur großen Konferenzzone ist hier alles vorhanden.
Damit nicht genug: Diesen Baukomplex gibt es viermal und er fällt im Wesentlichen immer gleich aus. Und wen wundert es: Jeder Komplex hat rund 450 Arbeitsplätze und jeweils eine der vier Microsoft-Farben. Das erleichtert das Zurechtfinden und schafft bilderbuchartiges Corporate Design.
Dass natürlich das Open Office nicht nur der offenen Kommunikation, sondern gerade durch die vielen Glaswände und den offenen Innenteil auch der Transparenz sowie der Kontrolle dient, liegt unausgesprochen auf der Hand. Das ist nicht per se negativ. Sondern es hängt davon ab, wie es gelebt wird.
Was weniger gefällt: Verlust des eigenen Schreibtischs (Desk Sharing und Clean Desk Policy)
Zitat aus der Begleitbroschüre zum Büroerlebnis: „Im Mittelpunkt stehen dabei immer die Mitarbeiter mit ihren individuellen Bedürfnissen, Talenten und Anforderungen an Arbeitsplatz und Art der Tätigkeit. So können jedes Team und jeder Mitarbeiter selbst entscheiden, wie und in welcher Zusammensetzung sie wo zusammenarbeiten möchten. Mit dem ‚Smart Workspace’ als flexible Arbeitsumgebung stimuliert Microsoft das Arbeiten im Flow und schafft optimale Bedingungen für ein produktives Hoch bei unterschiedlichen Leistungsanforderungen.“
Zitat aus dem Blog einer Besucherin: „Hier hat keiner seinen festen Platz, zumindest nicht länger als zwei Stunden und selbst die Chefs haben Wandern im Büro für sich entdeckt. Und sollte doch mal jemand länger als zwei Stunden an ein und demselben Platz verweilen, gibt’s ein ‚No Camping’-Schild auf den Platz. Peinlich! Noch peinlicher, als das Dauercamper-Schild, ist das ‚Pssst’-Schild, denn wer will schon der lauteste im Büro sein? Hat man dann aber doch einmal die Nase voll und will am liebsten laut schreien, dann hilft vermutlich nur noch eine der schalldichten Telefonzellen.”
Wir sollten diese Schildchen nicht überbetonen, weil sie klein und dezent sind. Trotzdem erschließt sich ihre Logik nicht: Braucht man so etwas wirklich? Und wie war das eigentlich mit „jeder Mitarbeiter darf selbst entscheiden“? Müssen Mitarbeiter wie kleine Kinder behandelt werden? Und zu Ordnung und Kommunikation gezwungen werden?
Übrigens: Diese No-Camping-Schildchen wurden in Holland erfunden und tragen dort den Aufdruck „Verboden te kamperen“. Ob auch alle Arbeitsplätze in den USA dieser Logik folgen, stellt noch eine Wissenslücke des Autors dar. (Wer kann sie im Hinblick auf eine Neuauflage dieses Reiseführers per E-Mail schließen?)
Ja, man kommt mit ein paar Arbeitsplätzen weniger pro Mitarbeiter aus. Nur wenn man die Besprechungsräume dazurechnet, wird die Rechnung schon etwas weniger beeindruckend.
Warum das Ganze? Nur weil das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO sich hier aus unerfindlichen Gründen auf eine etwas veraltete Denke festgelegt hat? Warum keine Souveränität für Mitarbeiter bezüglich des Arbeitsplatzes? Zeigen nicht alle Studien, dass sich dieser Verlust an „Heimat“, also an Identität und Stabilität, eindeutig negativ auf Motivation, Retention und Gesundheit auswirkt?
Was wenig mit Architektur zu tun hat: Arbeitszeit- und Arbeitsortsouveränität
Mitarbeiter können durch Vertrauensarbeit entscheiden, wann und wo sie arbeiten wollen – solange sie die vorgegebenen Aufgaben erfüllen (und natürlich nicht an einem Ort campen). Spätestens jetzt wird klar, dass bei Microsoft in München dem Mantra des Work-Life-Blending gehuldigt wird, man also einen fließenden Übergang aus Arbeitswelt und Privatleben anstrebt.
Konzeptionell hat das wenig mit Desksharing zu tun. Nur: Unternehmen wie Microsoft wollen auch als symbolisches Management über Desk Sharing ihre Mitarbeiter daran gewöhnen, auf räumliche Gebundenheit zu verzichten. Alles ist irgendwie im Fluss, nichts gegeben, nichts konstant. Gearbeitet wird nicht am Schreibtisch, sondern irgendwo. Kommen dann noch eine frei wählbare Arbeitszeit und ein frei wählbarer Arbeitsort dazu, verschwimmen die Grenzen zwischen Beruf und Privat völlig. Desk Sharing dient also auch als subtile Symbolik dazu, die Idee des Work-Life-Blending zu kommunizieren.
Microsoft nennt Work-Life-Blending bei ähnlichem Inhalt „Work-Life-Flow“ mit Flow als individuellem Zustand und als organisatorischem Prozessmodell. Diese Interpretation von „Flow“ als Proxy für „Blending“ liefert interessante Interpretationsangebote, weil es sowohl die Stärken vom Work-Life-Blending (Flow als Chance für das Unternehmen) als auch seine Schwächen (Flow als Bedrohung für das Individuum) verstärkt.
Konsequenz für Unternehmen: Bitte nur selektiv kopieren!
Überall bei Microsoft in Schwabing hört man gebetsmühlenartig: „Traditionelle Bürokonzepte passen nicht mehr in die digitale Welt.“ Man hat den Eindruck, dieser Satz ist Teil einer einheitlichen Sprache.
Nur: Was alles gehört zu diesem „nicht-traditionellen“ Bürokonzept? Was sollte alles kopiert werden?
Was man mitnehmen sollte ist auf jeden Fall die faszinierend „nicht-große“ Interpretation von Open Office als nicht-große und als nicht völlig offene Lösung. Sicherlich kann man sich noch überschaubarere Lösungen vorstellen, aber das was Microsoft in München macht, ist auf jeden Fall ein richtiger Schritt heraus aus überzogenen Konzepten. Was man auch mitnehmen kann, ist die Typenvielfalt der Arbeitsplatzformen: Hier können sich ganz unterschiedliche Arbeitsstile verwirklichen.
Konsequenz für Microsoft: Vielleicht doch etwas nachbessern?
Geht man zurück zum Anspruch auf Arbeitsplatzsouveränität, so ist zu erwarten, dass Microsoft Innovation und Weiterentwicklung auch in der Arbeitswelt ernst nimmt. Microsoft München wird bzw. muss Lernzyklen einlegen, die auch zentrale Paradigmen hinterfragen. Dann wird man sehen, dass gerade die Arbeitszeitregelung nichts mit dem Bürokonzept zu tun hat, sondern sogar verändert werden muss: Prinzipiell dauerhafte Verfügbarkeit von allen für alle ist nicht das universelle Erfolgsrezepte der Zukunft. Gleiches gilt für Desksharing und Clean Desk Policy: Beides mag für einige Beschäftigtengruppen sinnvoll sein, definitiv aber nicht für alle. Das gilt im Übrigen ganz besonders für Programmierer. Gerade Hackathons unterstreichen das Bild, wonach diese Personengruppe lange an einem Platz arbeiten und nicht abgelenkt werden will. Ist hier Desksharing wirklich passend?
Dabei wäre eine andere Welt ganz einfach realisierbar: Man bräuchte lediglich Mitarbeitern freistellen, ob sie ihren eigenen Arbeitsplatz behalten oder lieber wechseln wollen. Kosten = Null. Erfolg = Groß.
Nicht ganz so progressiv: Man könnte diese Nachbesserung als vergleichende Studie in einem der vier Türme ausprobieren. Der Autor dieses Reiseführers würde dieses Experiment gerne begleiten und brav darüber berichten.
Man bräuchte nur einen Zusatz, wonach Personen, die tatsächlich über einen längeren Zeitraum im Büro arbeiten wollen, ihren Arbeitsplatz behalten, aber auch wechseln dürfen. Auch Vertriebsleute, Kreative, Personaler, Controller und alle anderen würden sich darüber freuen. Und man kann sicher eine App schreiben, über die Microsoft-Mitarbeiter dann auf ihrem iPhone die Reservierung von Wunscharbeitsplatz und Wunscharbeitsdauer vornehmen können.
Schlussbemerkung: Danke, Chantal
Das Schöne am Verfassen eines Reiseführers durch die Arbeitswelt ist natürlich das Reisen. Und so gesehen war der Besuch bei Chantal in München und die Gespräche mit ihren Kollegen auf jeden Fall die Reise wert!
PS Auch Douglas Adams in seinem Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis“ äußert sich zu Schreibtischen und Schaltpulten. „Sein Hauptschaltpult war in einem eigens dafür entworfenen Direktionsbüro untergebracht, eingebaut in einen mit kostbarem ultraroten Leder bezogenen Direktionsschreibtisch aus dem erlesensten Ultramahagony. Auf dem dunklen Teppichboden waren luxuriöse Topfpflanzen und geschmackvolle Bildnisse der bedeutendsten Computerprogrammierer großzügig im Raum verteilt.”
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