Vorsicht: Der tiefe Blick in die private Schublade

1. Dezember 2014

Es gibt in unserer bunten Arbeitswelt Dinge, die oft erstaunliche Explosivität entwickeln. Dazu gehören überraschenderweise Schubladen, die der Reiseführer „Per Anhalter durch die Arbeitswelt“ aus diesem Grund vorsichtig unter die Lupe nimmt: Denn mit ihnen kann man totschlagen, aber auch Quanten springen.

DSC03477cwSchubladen_Paddaw

Nachdem der letzte Eintrag in diesen Reiseführer zur „Revolution der Regenschirme“ zu den Studentenprotesten in Hongkong kurz und bedeutsam ausgefallen ist, kommt heute eine umfassende Analyse eines exklusiv personalwirtschaftlichen Sachverhaltes. Diese Warnung ist zu verstehen als Service-Hinweis für den eiligen Leser mit Absprungtendenzen.

Für alle anderen Reisenden durch die Arbeitswelt, die ein etwas Zeit mitgebracht haben, gibt es als Einstieg einen kleinen Dialog:

Auf der einen Seite steht der ernst durch seine intellektuelle Brille schauende Analytiker, der glaubt, im Chaos der heutigen Arbeitswelt wichtige Muster zu erkennen. Auf der anderen Seite schüttelt der Berufsskeptiker den Kopf und murmelt: „Wieder nur stupides Denken in Schubladen“.

Alle anderen, die entweder die Muster des Analytikers nicht verstanden haben oder sich die daraus entstehenden Konsequenzen ersparen wollen, stimmen vollumfänglich und eifrig nickend zu. Denn die Auseinandersetzung mit Schubladen ist nicht trivial und erfordert analytisches Geschick. Wenn dann noch ein eifriger Herausgeber einer Fachzeitschrift für Praktiker seine Leser wieder einmal glücklich macht, indem er relativ schnell und pauschal „Schubladen“ auf den Sperrmüll schmeißt, lebt der vielzitierte „individuelle Einzelfall“ wieder auf: Bei ihm muss man nicht mehr systematisieren oder konzeptualisieren und kann – die Glückshormone schießen so heftig nach oben wie die Verkaufszahlen seines Heftes – wieder voll der eigenen Intuition nachgehen.

Spätestens jetzt ist es klar, dass es um ein personalwirtschaftliches Thema geht, denn das Denken in „Schubladen“ ist in der Personalführung (z.B. Menschenbild Y und X) durchaus üblich und auch nützlich. Außerhalb der Personalwirtschaft findet man dieses Schubladen-Denken in der Konsumentenforschung (z.B. „Sinus-Typen“), im Handel (z.B. „Category-Management“) und im Interface-Design (z.B. „Personas“).

Bevor man also das Totschlag-Argument „Schubladen-Denken“ auf den Tisch wirft, könnte erst einmal eine grundlegenden Definition nützlich sein:

Unter Schubladen versteht man in der Arbeitswelt (a) ein Totschlagargument zur Revitalisierung intuitiven Einzelfalldenkens oder (b) den Versuch einer Komplexitätsreduktion, bei dem beispielsweise Menschen aufgrund von gemeinsamen Merkmalen zu Gruppen zusammengefasst werden.

Dieses Schubladendenken hat in der personalwirtschaftlichen Theorie und Praxis eine lange Tradition: So definierte Edgar Schein unter anderem den „Social Man“ sowie den „Selbstverwirklicher“, Michael Macoby die „Spielmacher“ und „Firmenmenschen“. Manche Unternehmen haben „High Potentials“ oder aber (ohne so richtig darüber zu sprechen) die „Wackelkandidaten“. Zudem gibt es seit einiger Zeit die Wertemuster der „Generationen“ Babyboomer, X und Y sowie (neuerdings) auch Z.

An dieser Stelle ertönt reflexartig wieder „Alles nur Schubladen!“, was aber an dieser Stelle überhört werden soll. Denn auch wenn die Suche der eifrigen Verfechter einer schubladenfreien Welt nach beglückender Vereinfachung durchaus verständlich ist – dazu später mehr –, wäre der Reiseführer „Per Anhalter durch die Arbeitswelt“ kein echter Reiseführer, würde er trotz dieses medialen Gegenwindes nicht versuchen, das Denken in Schubladen intellektuell zu durchdringen.

Das Schubladen-Spiel besteht aus vier Schritten, nämlich aus (1) der Definition von Schubladen, (2) der Entwicklung von Zuordnungskriterien, (3) der Ableitung von Handlungskonsequenzen für die Bewohner von Schubladen sowie (4) der Überprüfung der Schritte (1) bis (3).

Für den ersten Schritt, also die Definition der Schubladen, ist es nicht erforderlich, dass sich die Inhalte der Schubladen in allen Merkmalen unterscheiden. Es genügt schon ein einziges Merkmal. Falls also ein Schubladenschrank Teesorten lagert, so könnte eine Schublade heißen „für ganz besondere Gelegenheiten“. Diese Definition kann man streng empirisch machen, aber auch plausibilitätsgestützt. Beim Menschenbild „Social Man“ wäre dies die Tendenz zu zwischenmenschlichen Kontakten; bei dem Wertemuster „Generation Z“ unter anderem eine extrem realistische Wahrnehmung und Einschätzung der aktuellen Arbeitswelt.

Der zweite Schritt, also die Entwicklung von Zuordnungskriterien, ist der schwerste Schritt. Denn auch der „Social Man“ hat vielleicht im Bewerbungsgespräch eine stille Phase. Auch die Zuordnung zu den „Generationen“ kann nicht simplizistisch durch einen Blick in den Reisepass gelöst werden. Da ist der irritierte Blick des Bewerbers schon zielführender, wenn der Unternehmer stolz auf „Flexible Arbeitszeitsysteme“ hinweist, ein ultimatives No-Go für die Generation Z, und bei „geregelten Arbeitszeiten“ hellhörig wird. Egal wie: Es braucht klare Zuordnungskriterien.

Die Ableitung von Handlungskonsequenzen als dritten Schritt ist wiederum einfach, denn sie hängt von den Zielen des Schubladenschrankbauers ab. Als Betreiber eines Eremiten-Klosters wird der „Social Man“ nicht eingestellt, wohl aber der Typ „Selbstverwirklicher“. Und eine Führungskraft muss einen Typ der Generation Z anders behandeln als einen Typ der Generation Y.

Zu Schritt 4, also der Überprüfung von Schubladenart, Zuordnungsfunktion und Handlungskonsequenz, gehört dann auch die Notwendigkeit, immer nachzuschauen, ob die Personen, die in irgendwelchen Schubladen landen, dort auch tatsächlich hingehören.

Dies führt zu folgendem Insider-Tipp:

„Schubladen-Denken“ ist kein Schimpfwort, sondern eine anspruchsvolle Tätigkeit.

Während die ernst durch ihre intellektuellen Brillen schauenden Analytiker mit dieser 4-Schritte-Systematik glauben, etwas vom Chaos der heutigen Arbeitswelt bewältigt zu haben, schüttelt der sich ebenfalls als intellektuell einstufende Berufsskeptiker schon wieder den Kopf und murmelt: „Alles nur stupides Denken in Schubladen: Jeder Mensch ist ein Individuum und muss so behandelt werden“.

So weit, so gut und so wenig überraschend. Aber trotzdem sind wir an einer interessanten Stelle beim Diskurs über Schubladen angekommen.

Denn was die eifrigen Verfechter einer schubladenfreien Welt in ihrer Suche nach beglückender Vereinfachung aber regelmäßig übersehen, ist die simple Tatsache, dass es spätestens seit Konrad Lorenz – dem Miterfinder der vergleichenden Verhaltensforschung – als erwiesen gilt, dass Komplexitätsreduktion durch Mustererkennung dem Überleben dient: Denn wenn Tiere in der Natur jede Einzelinformation als „Einzelfall“ interpretieren würden und jedes Mal neu nachzudenken beginnen, würden sie rasch aussterben.

Also gehen sie anders vor und praktizieren unbewusstes Schubladendenken.

Genau das machen aber auch die eifrigen Verfechter einer schubladenfreien Welt: Nur sind bei ihnen die Schubladen lediglich im Unterbewusstsein, was die Sache aber nicht besser, sondern vielmehr schlechter macht. Denn jetzt baut sich jeder ohne darüber nachzudenken irgendwelche Schubladen, legt – ohne dass er es merkt – Menschen nach Kriterien, derer er sich nicht bewusst ist, in diese Schubladen und bietet ihnen deshalb auch nicht die Möglichkeit, aus den Schubladen herausgenommen zu werden.

Dazu eine Warnung:

Ohne bewusstes Nutzen von Schubladen kommen wir in eine Welt voller versteckter Schubladen, die man erst bemerkt, wenn man dagegen läuft. Und in denen man gefangen ist – ohne Chance auf Verbesserung.

Zudem ist es fatal, wenn in einem Unternehmen jeder seine Personalarbeit nach eigenen Schubladen praktiziert.

Also rät der Reiseführer „Per Anhalter durch die Arbeitswelt“:

Lieber Wanderer durch die Arbeitswelt: Statt kategorisch Schubladen-Denken abzulehnen und sie im Unterbewusstsein doch intransparent zu verwenden, lieber über kommunizierbare Schubladen nachdenken und die oben beschriebene 4-Schritte-Systematik konsequent anwenden.

Sicherlich wird die Personalarbeit durch klare Schubladen nicht einfacher: Aber wenn beispielsweise das Wertemuster „Generation Y“ Optimismus, Leistungsstreben, Flexibilitätstoleranz, Work-Life-Blending und Wettbewerbsorientierung bedeutet, das Wertemuster „Generation Z“ dagegen auf Realismus, Flatterhaftigkeit, Unsicherheitsvermeidung, Work-Life-Trennung und Freizeitorientierung, dann verlangen diese beiden Muster nach unterschiedlichen Strategien.

Also: Beim nächsten Blick auf einen Schubladenschrank sollten wir versuchen, die darin verborgene Weisheit zu erkennen. Denn nur mit individuellem, einzelfallspezifischem Versuch-und-Irrtum werden wir auf unserem Weg durch die verworrene Arbeitswelt nicht immer vorwärts kommen. Schubladen machen das Leben einfacher, aber wir müssen diese auch immer kritisch hinterfragen und über verbesserte sowie transparentere Schubladen nachdenken.

P.S.: Natürlich kennt auch Douglas Adams die Macht der Schublade, vor allem, wenn sie mit Obst gefüllt wird: „Die Lebensgeschichte einer Patentschraubenzieherfrucht ist ziemlich interessant. Wenn sie geerntet ist, braucht sie eine dunkle, vollgestaubte Schublade, in der sie jahrelang ungestört liegen kann. Eines Nachts schlüpft sie dann und taucht als total undefinierbarer Metallgegenstand auf. Niemand weiß, was sie davon haben soll. Die Natur in ihrer unendlichen Weisheit arbeitet wahrscheinlich noch an einer Erklärung.”

Print Friendly, PDF & Email

No Comments

Comments are closed.